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Michalis Patentalis - Das wunderbare Lächeln von Ann Ewill

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2022-11-12 2022-11-12 12.11.2022
Mihalis Patentalis 0001
Michalis Patentalis

Es war wohl Herbst, da die Blätter ermüdet von den Ästen wegzogen und auf den feuchten Bürgersteigen der Stadt Zuflucht suchten. Die Häuser in der Birkenstraße standen stumm und grau in Reih und Glied, wie bereit zu einer Trauerprozession. Dieses Bild würde dem Leser nichts Besonderes vermitteln, wenn nicht in einem dieser Häuser George Klosé wohnte. George war Arbeiter in der Papiertaschentuchfabrik „Tempo“, hatte graue Haare, die Stecknadeln glichen, welche erst kürzlich in Melancholie gefallen waren, er hatte ein schwarzes Muttermal genau am Punkt des Dritten Auges, und sein rechtes Nasenloch war größer als das linke.
George stand jeden Tag um fünf Uhr in der Früh auf, trank eine Tasse schwarzen Kaffee, spuckte ins Waschbecken die Träume der vergangenen Nacht aus und nachdem er seine Schnürsenkel doppelt gebunden hatte, hüpfte er die Treppe hinunter, wobei er immer drei Stufen auf einmal nahm. Sein Ziel war die „Tempo“–Fabrik, die zwanzig Minuten Fußweg vom Haus in der Birkenstraße entfernt war. Eine Minute vor Sechs stempelte er seine Karte an der Stechuhr am Eingang der Fabrik, zog seinen Blaumann mit den vielen Taschen an, senkte den Kopf und stand für die nächsten zwölf Stunden nicht auf, es sei denn um Pinkeln zu gehen. Um sechs Uhr abends zog er den Blaumann aus, spuckte ins Waschbecken die Taschentücher, die er eingeatmet hatte, aus, und nachdem er die Schnürsenkel seiner Schuhe doppelt gebunden hatte, ging er hastig nach Hause. Um sieben Uhr öffnete er mit einem tiefen Seufzer der Zufriedenheit seine Haustür, zog seine Schuhe in der Diele aus und legte sich für genau eine Stunde aufs Sofa, um sich auszuruhen. Um acht Uhr eins stand er vom Sofa auf, ging unter die Dusche, putzte zweimal seine Zähne und zog anschließend seinen Anzug mit der orangenfarbenen Krawatte an. Danach breitete er die Tischdecke mit den Herzchen über den Tisch aus, machte eine Flasche Bordeaux auf und nachdem er zwei Gläser aus Leonardo Kristall auf den Tisch gestellt hatte, schaute er unruhig auf die Uhr an der Küchenwand, um sicher zu sein, dass er nicht zu spät dran war. Um Viertel vor zehn würde, wie jeden Abend, seine Liebste kommen. All dies hätte keine Bedeutung für den Leser, der niemals etwas über das Leben von George Klosé erfahren hätte, wenn der Vorarbeiter der „Tempo“–Fabrik nicht beschlossen hätte, Georges Arbeitszeit zu ändern und ihn statt in die Früh- in der Spätschicht einzusetzen.
„Herr Klosé, die Bedürfnisse der Fabrik verlangen eine Änderung Ihrer Arbeitszeit. Ich weiß, dass es für Sie schwer sein wird, aber es geht nicht anders“, sagte der Vorarbeiter zu George und gab ihm deutlich zu verstehen, dass er keine andere Möglichkeit hatte.
„Bis acht Uhr abends und keine Minute länger!“ schrie George und gab seiner Stimme einen solchen Klang der Entschlossenheit, dass Verhandlungen ausgeschlossen waren.
Der Vorarbeiter wusste von Georges Schwierigkeiten und versuchte gelassen eine Kompromisslösung vorzuschlagen: „Aber Herr Klosé, die Spätschicht geht bis zehn Uhr, ich kann Sie doch nicht zwei Stunden früher gehen lassen. Ich könnte eine Ausnahme machen, wenn Sie mit neun Uhr einverstanden wären. Was meinen Sie? Immerhin eine Stunde früher!“
„Um Acht! Und keine Minute länger! Ich werde doch meine Beziehung nicht wegen der Taschentücher aufs Spiel setzen!“ schrie George außer sich und seine Halsschlagadern plusterten sich auf und sahen wie zwei Schiffstaustränge aus.
„Aber können Sie denn nicht Ihrer Freundin sagen, sie möchte etwas später kommen? Um zehn, beispielsweise! Dann kann sie auch zwei Stunden länger bleiben. Nicht wie jetzt, wo sie um Viertel vor Zehn kommt und um halb Elf geht, als sei sie bestellt!“, schrie der Vorarbeiter zurück, verärgert über Georges totale Ablehnung seines Kompromissvorschlags.
„Meine Freundin, du Blödmann, arbeitet hart. Nicht wie deine Quatschtante, die den ganzen Tag zu Hause herumsitzt und mit den Nachbarinnen die Karten auslegt. Meine Freundin ist gebildet und kann nur um Viertel vor Zehn kommen“, sagte George und kehrte an die Maschine mit den Taschentüchern zurück, ohne eine Antwort abzuwarten.
Der Vorarbeiter sah, dass er keine Chance bei George hatte und rief ihm zu: „Sie haben eine Woche Zeit, sich zu entscheiden, Herr Klosé. Sonst bin ich gezwungen, Sie zu entlassen. Eine Woche und keinen Tag länger!“, sagte er und entfernte sich.
George füllte die beiden Gläser mit Wein und wartete. Pünktlich um Viertel vor zehn setzte sich ihm gegenüber an den Tisch seine Freundin, die, wie man später erfuhr, Ann Ewill hieß. Mit einem wunderbaren Lächeln auf den Lippen wünschte sie ihm „Guten Abend“ und begann, ihm zu erzählen, was sie in allen Kaffeehäusern der Welt gehört hatte. Sie erzählte ihm von Irak und dem Sterben kleiner Kinder, vom genetisch manipulierten Mais, dessen Produktion die Menschen aus ihrem Unglück retten wird, indem er sie seinerseits in Hühner umwandeln werde. Sie sprach pausenlos und berührte dabei mit ihrem warmherzigen Lächeln Georges Seele. Pünktlich um zehn Uhr hörte sie mit dem Erzählen auf, erneuerte ihre Verabredung für den nächsten Tag um die gleiche Zeit und verschwand anschließend genauso geräuschlos wie sie gekommen war. George hatte keine Zeit, irgendein Wort zu sagen. Er schaute nur mit offenem Mund auf die Bewegungen ihres Körpers, auf ihre Lippen, die sich jedes Mal berührten, wenn sie ein Wort aussprach, schaute auf die Fenster ihrer Augen, die sich in der Mitte ihres Gesichts rhythmisch öffneten und schlossen. Bei jedem ihrer Treffen schwor er sich, ihr die Liebe zu gestehen, die sich in sein Herz eingenistet hatte, und ihr von den Träumen zu erzählen, die er hatte, wenn sie endlich für immer beisammen sein würden; aber auch vom Feuer, das sich über seinen Körper ausbreitete, durch die Sehnsucht, sie endlich sein zu nennen.
Er wollte es, konnte aber nicht. Am Ende, ermüdet von der unendlichen Stille, ließ er sich aufs Sofa fallen und schlief bis fünf Uhr morgens des nächsten Tages.
All dies hätte für den Leser keine weitere Bedeutung und er hätte niemals etwas über die Beziehung von George Klosé zu Ann Ewill erfahren, hätte George nicht vor Ablauf der Frist, die ihm sein Vorarbeiter gesetzt hatte, beschlossen, Ann Ewill zu bitten, seine Frau zu werden.
An jenem Tag also stand George Klosé wie jeden anderen Tag um fünf Uhr morgens auf, trank eine Tasse schwarzen Kaffee, spuckte den Traum der Nacht nicht aus, schnürte doppelt seine Schuhe, ging ganz ruhig die Stufen einzeln hinunter und schlug die Richtung zur „Tempo“–Fabrik ein. Eine Minute vor Sechs stempelte er seine Karte am Eingang der Fabrik. Er zog aber nicht seinen Blaumann mit den vielen Taschen an, sondern ging direkt zum Büro des Vorarbeiters, klopfte zweimal an die Tür und betrat sodann entschlossen das Büro.
„Was ist, Herr Klosé? Haben Sie sich endlich entschieden?“ kam ihm der Vorarbeiter zuvor. George unterbrach ihn: „Ich möchte mir heute frei nehmen. Ich habe beschlossen, sie zu fragen, ob sie mich heiraten möchte. Morgen wird auch das Problem mit der Arbeitszeit gelöst sein“, sagte er und gab seiner Stimme einen Ton der Entschlossenheit, der keine Zweifel zuließ.
Der Vorarbeiter war vom positivem Wandel der ganzen Angelegenheit gerührt, denn im Grunde schätzte er Georges Arbeit – war dieser doch keinen einzigen Tag der Fabrik ferngeblieben –, stand vom Sessel auf und nachdem er George zweimal über Kreuz küsste, gab er ihm seinen Segen und wünschte ihm „blühendes Eheleben.“ „Bringen Sie sie doch hierher, Herr Klosé, damit wir sie auch kennen lernen. Seit einem Jahr höre ich so viel über Ihre Freundin“, sagte der Vorarbeiter ein wenig vorwurfsvoll und mit heimlichem Neid über das Glück seines Arbeiters.
George verließ um sieben Uhr die „Tempo“–Fabrik in Richtung Stadtzentrum. Um acht saß er noch in Francois’ Café-Bar und trank noch einen schwarzen Kaffee, während er wartete, dass die Geschäfte ihre Pforten öffneten. Um neun Uhr und eine Minute betrat er Noirs Juwelierladen und kaufte einen Damenring mit zwei Smaragden, die wie zwei leuchtende Sterne funkelten. Eine Minute vor zehn kaufte er in Frau Jaquelines Blumenladen dutzende roter Rosen und pünktlich um elf Uhr öffnete er seine Wohnungstür in der Birkenstraße. Eine Minute vor Zwölf legte er sich aufs Sofa und schlief, um diese Tageszeit ausnahmsweise drei ganze Stunden lang. Um drei Uhr und eine Minute ging er unter die Dusche, putzte zweimal seine Zähne und zog anschließend seinen grauen Anzug mit der orangenfarbenen Krawatte an. Mit langsamen Bewegungen deckte er den Tisch: Er überzog ihn mit der weißen Tischdecke mit den roten Herzchen, stellte darauf die beiden Gläser aus Leonardo Kristall und die Rosen in eine Vase, machte eine Flasche Bordeaux auf, setzte sich dann hin und wartete auf den großen Augenblick. Da es aber noch zu früh war bis Viertel vor zehn, begann er laut zu denken, was er seiner Freundin sagen würde, wenn sie in seine Wohnung kommen und ihm von all den merkwürdigen Dingen erzählen würde, über die sie draußen in der Welt gehört oder die sie selbst gesehen hatte.
Meine liebste Ann. Es ist ein Jahr verstrichen seit jener Herbstnacht, in der ich dich kennen gelernt habe. Erinnerst du dich? du warst scheu, mit deinen nassen schwarzen Haaren, die deine Schulter umschlossen und glichst einer Träne am Rand eines Platanenblatts. Ich wusste nicht, wie ich mich dir annähern sollte, ich hatte auch Angst, dass dein Körper bei einer Berührung zerbrechen würde; ich wusste nicht, welche Worte ich an dich richten sollte, ich hatte Angst, dass die Wörter wie Nadeln die bescheidenen Konturen deiner Augen durchstechen würden; ich wusste nicht, wie ich dich ansehen sollte, ich hatte Angst, dass sich dein Blick mit deinen Lippen verschwören und mich verraten würde. Und da hast du mich angelächelt. Ein wunderbares Lächeln, das bewirkte, dass meine Liebe auf einmal wie ein Tau auf den Boden rollte. Seit jenem Augenblick wusste ich, dass ich für immer mit dir zusammen leben wollte. Bis gestern traute ich mich nicht, es dir zu sagen. Es hat sich auch nicht so ergeben. Was soll man sich außerdem alles innerhalb von Dreiviertelstunde erzählen? Über die Kriege und die toten Kinder, über die genetisch veränderten Pflanzen und die Kernreaktoren, über die Börse und den Rinderwahn, über die Mutter, die ihr Kind getötet, das Kind, das seinen Vater umgebracht und den Vater, der seine Tochter vergewaltigt hat? Wie sollte man solcher Nacktheit zuvorkommen und sie in eine Dreiviertelstunde ankleiden? Aber nun ist es an der Zeit, über uns zu reden. Über unsere Zukunft und unsere Träume. Meine liebste Ann, willst du meine Frau werden?
Bei diesem letzten Satz kam George aus seinem Delirium zu sich und schaute erschrocken auf die Uhr. Es war neun Uhr und vierundvierzig Minuten. Eine Minute vor dem großen Treffen, dachte er, schloss die Augen und zählte von sechzig ab rückwärts. Neunundfünfzig … neun und… achtundzwanzig … pünktlich um Viertel vor zehn öffnete er sehnsuchtsvoll seine Augen. Aber, herrjemine!
Ihm gegenüber saß, anstatt von Ann, ein Mann mittleren Alters mit durchfurchtem Gesicht, schwarzem Anzug und einer solchen zur Schau gestellten Herablassung in den Augen, dass sie in Georges Körper Ekel verursachte, der sich in Form von Schweiß aus seinen Hautporen äußerte – so groß war seine Überraschung.
„Wer bist du denn? Und wie bist du in meine Wohnung gekommen? Wo ist Ann?“ brüllte George und sprang von seinem Sitz auf. Der Typ schien sich überhaupt nicht an Georges Reaktion zu stören und nachdem er ihm einen guten Abend gewünscht hatte, sagte er: „Ich heiße Ulrich von Ickert und vertrete heute Ann Ewill, die plötzlich erkrankte.“ Trübheit breitete sich über Georges Hirn aus. Wer war dieser Herr, der ungeladen in seine Wohnung gekommen war und so frech zu denken wagte, er könne jemals seine Liebste vertreten?
„Wenn du mir nicht sofort sagst, wo Ann ist, bring ich dich um!“, sagte er und schnappte sich ein Messer von der Küchenbank. Ulrich von Ickert ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und mit einem Lächeln, das wunderbar sein könnte, wäre es keine Imitation von Ann Ewills Lächeln gewesen, begann er die Nachrichten des Tages zu sprechen. Da stürmte George verärgert auf ihn und mit einer einzigen Bewegung stach er das Messer in Ulrich von Ickerts Hals, so dass ihm sofort der Atem weg blieb.
Das alles hätte keine Bedeutung für den Leser, der niemals von diesem Mord erfahren hätte, hätte der Vorarbeiter der „Tempo“–Fabrik am nächsten Tag, einer Vorahnung folgend, nicht beschlossen, zusammen mit zwei Polizisten die Wohnung in der Birkenstraße aufzusuchen, um nach dem Grund des Nichterscheinens von George Klosé in der Fabrik zu forschen.
„Zehn Jahre lang ist er keinen einzigen Tag weggeblieben, Herr Wachmann“ hatte er in der Wache gesagt, als er Georges Abwesenheit melden wollte.
Am selben Abend, um eine Minute vor neun, klopfte der Vorarbeiter zusammen mit den zwei Polizisten an der Wohnung in der Birkenstraße. Um eine Minute nach neun machten sich die beiden Polizisten fertig, die Wohnungstür zu stürmen; sie nahmen zwei Meter Anlauf und stürzten sich auf die Tür, die aufgebrochen wurde. Sie machten drei große Schritte und betraten das Wohnzimmer. Dort fanden sie George Klosé, regungslos, mit einem Küchenmesser in der Hand, das mitten im Bildschirm des Fernsehers steckte. Um neun Uhr dreißig kam aus dem Haus in der Birkenstraße eine Krankenbahre mit George Klosés totem Körper darauf. Um Viertel vor zehn sprach Ann Ewill mit ihrem wunderbaren Lächeln wie jeden Tag die Abendnachrichten …